Mittwoch, 1. März 2017

GENERATION RESPEKTLOS: These 2 Es ist eng in der Schweiz


Wann ist eng eng? Für mich gibt es zwei Arten von Enge. Die geistige und die geographische. Beginnen wir damit.

Einwohnerzahl Schweiz       Jahr               Fläche Schweiz
1‘493‘726                                1803               41,277 km²
3‘300‘000                                1910               41,277 km²
5‘300‘000                                1960               41,277 km²
6‘200‘000                                1972               41,277 km²
6‘800’000                                1991               41,277 km²
7‘255‘700                                2001               41,277 km²
8‘391‘973                                2016               41,277 km²
9‘100‘000                                2024*             41,277 km²
*Schätzung Conviva Plus                                                                                           

Die Schweiz wächst. Zumindest einwohnermässig. Da wir aber schon lange kein kriegerisches Volk mehr sind, verändert sich die Fläche nicht. Ergo leben auf immer gleichem Raum immer mehr Menschen. 
Fakt ist: Wir sind ein kleines Land. Flächenmässig kleiner als die deutschen Bundesländer Bayern oder Niedersachsen, kleiner als die US-Bundesstaaten West Virginia oder South Carolina. Wäre die Schweiz eine Insel, sie läge mit dieser Fläche weltweit gerade mal auf Rang 33, bei den Seen wäre es Position 6. Bei uns leben weniger Leute als in Jakarta, als in Tadschikistan, Malawi, in Haiti oder auf Kuba.
Klein ist immer auch relativ. In der Hitparade der Einwohnerzahl liegen wir weltweit auf Rang 95 (bei 238 erfassten Gegenden und Ländern). Bei der Fläche sind wir auf Position 132. Beim Bevölkerungswachstum sind wir gerade noch auf Platz 180 mit 0,2% Zunahme im Jahr. Pro 1000 Personen kommen in der Schweiz im Jahr noch 9,5 Kinder zur Welt – Platz 202.

Die räumliche Enge in unserem Land nimmt also zu. Allein in den letzten 20 Jahren hat sich unsere Bevölkerungszahl massiv erhöht. Da liegen wir im Trend. Pro Sekunde nimmt die Weltbevölkerung um ca. 2,5 Menschen zu. Die Marke von 6 Milliarden Erdenbürgern wurde im Jahre 1999 erreicht. Im Jahr 1804 lebten erstmals mehr als eine Milliarde Menschen auf unserem Planeten. Die zweite Milliarde wurde um 1928 erreicht. 1960 waren wir schon drei Milliarden Menschen Bleibt die Geburtenrate gleich hoch wie im Moment, werden im Jahr 2050 bereits elf Milliarden Menschen auf der Erde leben. Momentan wächst die Weltbevölkerung jedes Jahr um ca. 80 Millionen. Das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl von Deutschland.
Eng wird es also fast überall auf der Welt. Laut dem eidgenössischen Bundesamt für Statistik  BfS wird  auch die Einwohnerzahl in der Schweiz in den nächsten 20 bis 30 Jahren nochmals massiv zulegen. „Die Kantone im Einzugsgebiet der Metropole Zürich und im Genferseeraum werden bis 2035 einen Bevölkerungszuwachs von über 15 Prozent verzeichnen, während die Kantone im Nordwesten und Südosten der Schweiz Bevölkerungs- mässig nur wenig wachsen werden. Die Bevölkerung der Kantone Waadt, Freiburg, Aargau, Genf, Obwalden, Luzern, Thurgau und Zürich wird um 15 bis 25 Prozent zunehmen, während die Kantone Uri, Jura, Neuenburg, Graubünden, Schaffhausen, Bern und Basel-Stadt Zuwachsraten von höchstens fünf Prozent verbuchen werden“, meldete das BfS.
Noch etwas konkreter wurde das Bundesamt für Raumentwicklung, ARE.: „In der Schweiz gibt es noch Platz für Wachstum“, schrieb die Zeitung „Sonntag“ und sprach mit der die Amts-Direktorin Maria Lezzi Ein Ausschnitt aus diesem Interview:
„Wie viele Einwohner erträgt die Schweiz?
Das ist eine politische Frage, auf die es keine naturwissenschaftliche Antwort gibt. Theoretisch haben wir noch relativ viel Platz.
Was heisst das konkret? 
Die aktuelle Bauzonenstatistik zeigt, dass heute Baulandreserven für 1,4 bis 2,1 Millionen zusätzliche Einwohner vorhanden sind. Für diese Flächen braucht es keine Einzonungen, keine Entscheide einer Gemeindeversammlung und keine Genehmigung durch den Kanton mehr. Diese maximal 2,1 Millionen Einwohner sind aber ein theoretischer Wert. Es ist ein politischer und gesellschaftlicher Entscheid, ob wir tatsächlich so viele zusätzliche Einwohner wollen.“

Die Mobilität nimmt zu. 1990 gab es in der Schweiz ungefähr drei Millionen Autos. Im 2012 sind es über vier Millionen. Macht also pro zwei Einwohner ein Auto. Und das sind wirklich nur die PKW’s. Zählt man nämlich Busse, Anhänger, Traktoren und Motorräder hinzu, kommen wir auf die stattliche Zahl von ungefähr 5,7 Millionen Fahrzeugen die immatrikuliert sind.
War das Automobil einst noch ein reiner Luxusgegenstand, kann sich unterdessen jeder Depp ein Auto kaufen. Und wenn es finanziell nicht reicht, rennt man einfach zur nächsten Leasingbank. Jedes vierte Neuauto wird nicht mehr cash bezahlt sondern abgestottert. Besonders die Tessiner leasen ihr Auto gern. Dafür spricht auch, dass die Motorfahrzeugdichte im Tessin mit 606 Autos pro 1000 Einwohnern deutlich höher ist, als in den Kantonen Zürich oder Basel- Stadt. Dort kommen laut Bundesamt für Statistik auf 1000 Einwohner 482 beziehungsweise 335 Autos.

All diese Fahrzeuge benötigen zusammen eine Fläche von mehr als viertausend Fussballplätzen.

Viele Fahrzeuge sind oft Stehzeuge, denn wo viele unterwegs sind, staut es sich auch häufig. Im 2011 wurden auf den Schweizer Autobahnen fast 26 Milliarden Kilometer absolviert. 1990 waren es noch halb so viel.
Problematisch ist die Stausituation vor allem auf der Nordumfahrung Zürich-Winterthur, wo 2011 an 349 Tagen Staus registriert wurden. Am Gotthard-Südportal wurden an 182 Tagen Staus gezählt, am Nordportal an 150 Tagen. Aber schieben wir nicht den Autos die Schuld in die Reifen dafür, dass es eng wird.
Die Bevölkerung wächst. Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei weiss woran es liegt; an der Zuwanderung. "Erträgt die Schweiz mehr als acht Millionen?", fragte der "Sonntag" noch 2011 auf seiner Internetseite. Drei Viertel der Abstimmungsteilnehmer stimmten mit "Nein". In einer ähnlichen Umfrage von "20min.ch" wählten 73 Prozent der User die Antwort: "Ich find's blöd. So hab' ich weniger Platz in der Schweiz." Und bei einer Online-Abstimmung der "Aargauer Zeitung" gaben 65 Prozent der Beteiligten an, dass ihnen das Wachstum grosse Angst bereite.
Aber nützt alles nichts. Die „Mehr-als-8-Millionen-Schweiz“ ist seit Sommer 2012 Tatsache.
Und schon sind wir mitten drin in den Emotionen und der Polemik. Insbesondere die Politik kocht da ihr ganz eigenes Süppchen. In der These 3 richte ich dann mein spezifisches Augenmerk auf die Angstmacher. Doch wir widmen uns schon in diesem Kapitel der SVP. Jede politische Partei hat so ihre Achillessehne. Die der SVP ist die Doppelmoral und rollen wir nochmals den sogenannten „Fall Mörgeli“ aus dem Herbst 2012 auf.
Der Nationalrat und Professor verlor seine Stellung an der Uni und jammerte dann – ausgerechnet er, der auf seinem Höllrenritt in den politischen Machtzentralen keine verbale Schlacht ausgelassen hatte – er sei ein Mobbingopfer.
Mobbing?
Hat nicht die SVP sich jahrelang unermüdlich lustig gemacht über „Mobbingopfer“ und „Burnout-Betroffene“? Und innert weniger Tage fiel nicht nur Professor Mörgeli dem Mobbing, sondern auch seine Parteikollegin Natalie Rickli einem Burnout zum Opfer. Plötzlich galten diese Ausdrücke selbst in der selbsternannten Aufräumerpartei als salonfähig.
Sich über IV-Bezüger (wie Mobbingopfer oder Burnout-Betroffene) lustig zu machen und bei erster Gelegenheit selber zu einem Fall zu werden, ist ein Teil der SVP-Doppelmoral.
Die Volkspartei ist auch unermüdlich wenn es darum geht, die sogenannten „Schweizer Werte“ zu verteidigen. Die Neutralität zum Beispiel. SVP-Präsident Toni Brunner im Januar 2007: „Die SVP fordert in einem Grundsatzpapier die Rückkehr der Schweiz zu ihrer über Jahrhunderte verfolgten Politik der integralen Neutralität.“
Besonders störend empfinde ich das Wort „Rückkehr“. Eine Rückkehr zu was? Sollen wir wieder eine Horde marodierender Bekloppter werden, die Europa einst mit Blut überzogen haben? Da wird die Schweizer Geschichte vom damaligen SVP-Chef arg gebogen. Nachdem die Eidgenossen 1515 ihre grösste Niederlage bei der Schlacht von Marignano erlitten, zogen sie sich zwar aus allen Konflikten zurück, stellten aber weiterhin Söldner-Kontingente an fremde Mächte. Beim Dreissigjährigen Krieg (1618-1648) mischten die Bündner fleissig mit und später schloss eine Mehrheit der Kantone sogenannte „Kapitulations-Verträge“ mit Frankreich ab. Unser westlicher Nachbar konnte somit weiterhin auf eidgenössische Truppen zurückgreifen. Von 1798 bis 1814 stand die Schweiz gar unter französischer Herrschaft, die Neutralität galt da nicht. Erst auf dem Wiener Kongress wurde 1815 die Schweizer Neutralität offiziell auch von anderen Staaten anerkannt.
Wie eine Dauerleier wiederholt die SVP den Wert der Neutralität  - und verunsichert uns damit bloss. Die Fahne der Neutralität wird viel zu schnell geschwenkt. Im Frühjahr 2011 engagierte sich die UNO im Unrechtsstaat Libyen – dessen grössenwahnsinniger Diktator Gaddafi kurz vor seinem Fall stand. Die Briten schickten einen Konvoi von 20 Fahrzeugen los und durchquerten auch das UNO-Mitgliedsland Schweiz: „Dieser Vorgang zeigt einmal mehr auf, dass die Mitgliedschaft der Schweiz in der UNO mit der Neutralität unseres Landes nicht vereinbar ist“, polterte die SVP sogleich. Lieber einen Diktator im Amt lassen als Friedenstruppen die Durchfahrt zu gewähren? Oder die SVP redet unser Land bei Bedarf gerne klein. Eine junge Aargauer SVP-Politikerin schreibt auf ihrer eigenen Website: “Das Volk hat demokratisch entschieden, nicht der Europäischen Union beitreten zu wollen, somit soll das EU-Beitrittsgesuch zurückgezogen werden. Die integrale und bewaffnete Neutralität bietet nach wie vor die beste Überlebensstrategie für einen Kleinstaat.“
WANN hat die Schweiz entschieden, der EU beizutreten?
Ein Bieler Jungspund der Partei polemisierte: Auch wenn humanitäre Hilfe und die Verhängung von Sanktionen gegen mordende Diktatoren moralisch vertretbar sind, müssen wir uns fragen: Sind wir eigentlich (noch) neutral?
Die Liste liesse sich problemlos weiterführen. Es geht um eine Grundhaltung. Überall gibt es Konservative und Besitzstandwahrung ist nicht per se etwas Schlechtes. Aber Werte zu vertreten, die nicht mal von vorgestern sind, verunsichern die Menschen bloss. Diese „Neutralitäts-Diskussion“ bringt überhaupt nichts. Ausser, dass wir Angst bekommen.
Eine andere beliebte SVP-Zielscheibe sind die Ausländer, da wird die Doppelmoral der Partei noch deutlicher. 
Zunächst schauen wir uns ein politisches Paradox an. Noch 1970 gebar eine Schweizer Frau im Durchschnitt 2,1 Kinder, heute sind es gerade noch 1,4. Wenn das so weitergeht, stirbt die Schweiz in etwa 300 Jahren aus. Das will die SVP natürlich nicht.
Was tun? Wir „produzieren“ wieder mehr Kinder. Oder wir erhalten uns mit Einwanderung. Etwa 80'000 müssten jährlich in die Schweiz kommen, damit die Wohnbevölkerung mittelfristig nicht signifikant abnimmt. Ein Problem übrigens, dass viele Länder im Westen kennen.
Das will die SVP selbstverständlich auch nicht. Wenn die Volkspartei ehrlich wäre, müsste sie eine Drei-Kind-Politik in ihr Parteiprogramm aufnehmen, nach dem Motto „Schweizerinnen, gebärt endlich wieder“ oder „Schweizermänner, an die Pötten“.
Denn die Ausländer haben einen direkten Einfluss auf unseren Wohlstand. Wie stände es um das Einwandererland Schweiz ohne Ausländer? Ökonomen haben Bemerkenswertes festgestellt: „Seit Einführung der Personenfreizügigkeit sei das Bruttoinlandprodukt pro Kopf der Bevölkerung mit jährlich 0,8 Prozent doppelt so schnell gewachsen wie im vorangegangenen Jahrzehnt. Dieses Wachstum sei weniger durch die blosse Steigerung des Arbeitseinsatzes als vielmehr durch eine Erhöhung der Produktivität erzielt worden“, sagt Boris Zürcher, Direktor des Konjunkturforschungsinstituts BAK Basel. Und seine Zürcher Kollegen von der Konjunkturforschungsstelle KOF von der ETH Zürich erkannten gleichzeitig „einen positiven Wachstumsbeitrag der Personenfreizügigkeit, und zwar von jährlich 0,16 Prozentpunkten für die Periode von 2002 bis 2007.“
Ausländer sind – leider – praktische Sündenböcke. Ihre Lobby ist klein, und ihre Stimme erheben viele nicht. Vor 40 Jahren stammte etwa ein Sechstel der Menschen nicht aus der Schweiz. Heute ist es etwa ein Fünftel. Schon vor siebzig Jahren erschallte der fürchterliche Ruf „Das Boot ist voll“ durchs Land und kostete unzählige hilfesuchenden Flüchtlingen das Leben. Doch ist es heute besser? Als Zyniker könnte ich sagen, andere Länder, rauere Töne, sogar die österreichische Innenministerin vergriff sich vor gar nicht langer Zeit verbal:  „Toleranz ist ein absolutes No-go im Islam". So was kommt einem Schweizer Minister (noch?) nicht über die Lippen. Aber einem Nationalrat wie dem rührigen Hans Fehr ohne Probleme: „Hochaktuell und beängstigend ist insbesondere die Massenzuwanderung, die seit Jahren in unser Land stattfindet. Zwischen April 2011 und April 2012 sind netto 80‘000 Ausländer zugewandert, 2035 wird 10 Millionen-Grenze überschritten. Die Folgen sind schon heute gravierend: überfüllte Züge, verstopfte Strassen, Wohnungsknappheit/höh​ere Mieten, Kulturland-verknappung​, höherer Energieverbrauch, tiefere Löhne, mehr Arbeitslose, Probleme an vielen Schulen, mehr Kriminalität.“
Die geistige Enge, die zunimmt, kriegt durch solche Vereinfachungen Nahrung. Und wenn es um Statistiken und Zahlen geht, hatte die SVP bekanntermassen noch nie ein glückliches Händchen. An der Anzahl der Ausländer wird je nach Gusto geschraubt, Hauptsache es tönt spektakulär, Hans Fehr kommt nämlich zum Schluss, dass „die Sozialwerke gefährdet sind“. Warum? „Die 23% Ausländer beziehen derzeit  44,5% der Arbeitslosengelder, 32,1% der IV-Gelder und 45,7% der Sozialhilfe.“
Plötzlich sind es also nur noch 23% Ausländer. Dabei schreibt die Volkspartei in ihrem eigenen Parteiprogramm: „Es halten sich über zwei Millionen Ausländer in der Schweiz auf, was 27,2 Prozent ausmacht. Ohne die Masseneinbürgerungen der letzten 25 Jahre wären es sogar 34,3 Prozent.“
Wir werden engstirnig und hinterhältig, wenn wir beginnen, solche Dinge zu übernehmen, zu glauben und weiterzuverbreiten. Wir beginnen engstirnig zu werden und verblöden langsam. Die Menschlichkeit wird auf dem Altar der Kurzfristigkeit geopfert. Wozu? Für ein paar Wählerprozent. Die SVP ist im Dauerwahlkampf. Das macht die Volkspartei seit Jahrzehnten schlau und geschickt. Aber ihre Panikmache ist unsinnig und zerstörend. Damit greift die Law and Order-Partei der Schweiz genau die Werte an, die sie eigentlich so hoch und heilig verteidigen will. Die innere Stabilität. So beginnt ein einst hochmotiviertes Land in die geistige Blödheit abzudriften. Entweder überzeugt von den SVP-Dummheiten oder ermüdet von der ewigen Wiederholung.

Passen wir also auf, damit die Schweiz nicht in die Trumpelfalle gerät.

Meine These Nummer 2 lautet: Es ist eng in der Schweiz. Auch diese These purzelt bei näherer Betrachtung nun zusammen. Ich finde, wir werden weichgekocht, aber ich hoffe, wir können widerstehen. Frank A. Meyer, Ringier-Chef-Ideologe, bringt es in der Schweizer Illustrierten schlau auf den Punkt: „Mit den Zuwanderern kommen auch Kriminelle in unser Land, und zwar ganz oben in der Gesellschaft wie ganz unten. Die einen bringen ihr ergaunertes Geld auf Schweizer Banken in Sicherheit. Die anderen wandern in unser Sozialsystem ein. Allerdings gibt es da einen Unterschied: Vor den reichen Gaunern stehen die Behörden stramm. Die Banker verneigen sich. Und die Bijoutiers reiben sich die Hände. Gegen die armen Gauner hetzt die Schweizerische Volkspartei und lenkt damit – ganz gezielt – von den reichen Gaunern ab. Beide müssen wir bekämpfen“, so Meyer, und weiter:
„Als ich begann, journalistisch zu arbeiten, galt dieses Unbehagen den Italienern. Sie waren den Schweizern zu laut, und sie sangen zu viel. Heute erinnern wir uns voller Nostalgie an die ersten Eissalons, die erste Pizza, das Spaghetti-Rezept, das uns ein italienischer Freund verriet. Die Italiener haben unser Leben auf wunderbare Weise verändert – verlebendigt! So wird es uns auch mit den anderen europäischen Kulturen ergehen.“
Die geistige Enge ist nur ein Konstrukt in unseren Köpfen. Seien wir doch einfach tolerant und offenherzig, gehen wir auf Mitmenschen zu, egal ob sie braun oder gelb sind, egal ob sie Kopftuch tragen. Idioten gibt es überall, nicht nur unter den Fremden. Denken Sie nur an den Massenmörder Friedrich Leibacher, der am 27. September 2001 im Zuger Parlament ein Blutbad anrichtete und 14 Menschen und anschliessend sich selber erschoss.
Im aargauischen Rupperswil fand die Polizei 2015 vier Leichen in einem angezündeten Haus. Der Mörder war ein 33jähriger Fussballtrainer aus der Region.
Für Angst und Schrecken sorgte im Herbst 2010 der von den Medien zum „Amok-Rentner“ stilisierte Peter Hans Kneubühler, als er in einem Bieler Wohnquartier wild um sich schoss.
1984 erschoss der Chef der Zürcher Baupolizei vier seiner Untergebenen und verletzte einen Fünften schwer. Drei Wochen nach der Tat wurde Günter Tschanun verhaftet und zu siebzehn Jahren Haft verurteilt.
Es gab den grausamen Babyquäler René Osterwalder, es gab die Mutter, die 1993 in Spreitenbach ihr Baby verhungern liess, ähnliches ereignete sich 2001 in Genf.
Was ist diesen Leuten gemein? Leibacher aus Zug, Kneubühler aus Biel, der Aargauer Fussballtrainer, Tschanun in Zürich, Osterwalder, die nihilistischen Mütter?
Alles Schweizer.
Die SVP kann noch so auf die Ausländer schlagen, sie noch so verunglimpfen, es nützt alles nichts. Die Täter sind überall.

Nun zur geografischen Enge. Die ist nämlich auch nicht wahr. Auch dieses Thema, diese permanente Dauerbeschallung, fällt bei näherer Betrachtung in sich. Wir sind zwar immer mehr Menschen auf immer gleichem Raum. Aber bei der Bevölkerungsdichte erreichen wir trotzdem „nur“ 185 Menschen pro Quadratkilometer. Damit Sie eine Ahnung von der Grösse eines Quadratkilometers zu erhalten; das ist die Fläche von 140 Fussballfeldern. Oder wiederum zurückgerechnet: In der Schweiz steht jedem Menschen ungefähr Dreiviertel eines Fussballfeldes zur Verfügung. So wenig ist das nicht. Deutschland, Italien, Jamaika, Japan, Belgien oder Luxemburg – um nur einige Beispielländer zu nennen – haben eine höhere Dichte. Waren Sie schon einmal auf Malta? Dort trampeln sich fast 1300 Menschen pro Quadratkilometer auf den Füssen. Eine wahre Stampede, bei uns ist es diesbezüglich geradezu idyllisch.
Wir können den Blick auch auf Länder richten, wo die Menschen mehr Platz als bei uns haben. Aserbeidschan, Marokko, Georgien, Tunesien, Iran, Somalia, Nigeria. Viele dieser Länder sind sogenannte Krisenherde. Viel Platz bedeutet also nicht automatisch viel Frieden.
Waren Sie schon mal in Hong Kong, New York, London, Rio de Janeiro oder nur schon zur Weihnachtszeit in der Innenstadt von München? Nehmen Sie die stoischen Inder oder die gutmütigen Japaner, die sich tagtäglich in ihre Züge und U-Bahnen pferchen um mit einem Quotienten von fünf Menschen pro Quadratmeter zur Arbeit fahren lassen.
Uns steht heute auch viel mehr Wohnraum zur Verfügung. In den 1980er Jahren betrug der Wohnflächenbedarf in der Schweiz pro Person 34 Quadratmeter, im Jahr 2000 waren es bereits 44 Quadratmeter. Ist das eng? Erst kürzlich war ich an einem Apéro, wo sich ein biederes Mittelstandspaar damit brüstete, demnächst in eine neue Wohnung mit einem 50-Quadratmeter-Bad zu ziehen.
Apropos Planschen und Freude am Wasser haben. "Finden wir 2025 noch Platz für unser Handtuch im Schwimmbad“? wollte die deutsche „Zeit“ wissen und verglich Zürich mit Berlin: „Die Situation sei relativ komfortabel, gab der Bäderchef Entwarnung: In Berlin würden sich im Durchschnitt 50.000 Personen ein Schwimmbad teilen, in Zürich seien es lediglich 9000.“
Einen überaus schlauen Text zum Thema habe ich Online gefunden, ein junger Jurist aus Bern hat sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzt: „Wachstumskritik gehört neu zu den Standardphrasen von Durchschnittspolitikern jeden Couleurs. Die Infrastruktur könne das Wachstum nicht mehr bewältigen, die Mieten und Bodenpreise würden unerträglich, die „Singapurisierung der Schweiz“ müsse aufgehalten werden denn die absolute Wachstumsgrenze sei erreicht. Doch es geht in dieser modischen Diskussion nicht eigentlich um Wachstumskritik, sondern darum, einen Sündenbock aufzubauen. Für die gefühlte Enge im Zug, auf der Autobahn und bei der Suche nach Wohnungen ist nach der Darstellung der falschen Wachstumskritiker nicht die explodierende Mobilität der Alteingesessenen verantwortlich und ihre immer raumgreifenderen Vorstellungen einer angemessenen Behausung, sondern die Zuwanderung.
Erstens ist es in der Schweiz nicht eng und zweitens wäre die Ressourcenknappheit selbst dann, wenn sie tatsächlich akut wäre, nicht von der Zuwanderung zu verantworten. Zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte war es in der Schweiz enger als heute. Im späten Mittelalter – auf dem Gebiet der heutigen Schweiz lebten knapp 800’000 Einwohner – waren nicht nur die zur Verfügung stehenden Lebensmittel sondern auch der zur Verfügung stehende Lebensraum pro Kopf sehr knapp. In der Stadt Zürich bestand die Vorschrift, eine Strasse müsse mindestens so breit sein, dass eine Sau sich umdrehen könne. Das war eng. Im Jahr 1900, als in der Schweiz rund 3.3 Millionen Menschen lebten, hätten die Menschen wohl gesagt, die absolute Kapazitätsgrenze des Landes sei bereits überschritten, was ihnen niemand hätte verübeln können. Denn obwohl weniger als die Hälfte der heutigen Bevölkerung in der Schweiz lebte, war es unendlich viel enger. Die Wohnungen waren elend und dunkel, mit rauchigen Heizungen und ohne fliessendes Wasser. Oft bestanden sie aus einem einzigen Raum. Mehrere Familienmitglieder mussten in demselben Bett schlafen und dennoch war die Miete so hoch, dass sie fast das ganze Einkommen verschlang. Das war eng.
Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung hat im Vergleich zu 1910 (als ebenfalls weitgehende Personenfreizügigkeit mit den Nachbarstaaten herrschte) nur um etwa 9 Prozent zugenommen. Das zeigt: Im Vergleich zu den sehr stark steigenden Ansprüchen der bereits Anwesenden ist das Bevölkerungswachstum durch Zuwanderung ein vernachlässigbarer Faktor für die Belastung der Ressourcen im Land. Und: Entscheidend für die Ressourcen, die pro Person zur Verfügung stehen, ist nicht die absolute Zahl der Einwohner/innen, sondern die Effizienz, mit der die vorhandenen Ressourcen genutzt werden.
Der limitierende Faktor für die Grösse der Schweiz ist nicht die Enge des Lebensraumes, sondern die Enge in den Köpfen.“
Wir konstatieren; unter den Menschen ist es nicht enger geworden. Die Wohnungen sind grösser und komfortabler, die Autos luxuriöser und bequemer geworden, das öffentliche Angebot wird immer besser, der Staat hat sich vom Beamtentum zur Dienstleistungsgesellschaft entwickelt, wir sind ein international anerkannter Staat, kaum ein anderes kleines Land hat weltweit ein derart gutes Branding; Schoggi, Sackmesser, Uhren, Pünktlichkeit sind weiterhin Schweizer Superwerte, wir klatschen stolz wenn unsere Fussballnationalmannschaft (durchsetzt mit eingebürgerten Migranten) fussballerische Grossmächte wie Spanien oder Deutschland schlägt. Tief in unseren Herzen sind wir stolze und tapfere Eidgenossen und wir haben in unseren Köpfen Wälle aufgebaut, die einer genaueren Betrachtung gar nicht standhalten können. Die Touristen strömen zu uns, Bollywood dreht seine Filme in unseren Alpen, das WEF in Davos ist eines der wichtigsten internationalen Wirtschaftstreffen, die UNO hat ihren Europahauptsitz in Genf und mit der Bank für internationalen Zahlungsausgleich haben wir das wichtigste Bankenkontrollorgan mit Sitz in Basel.
Es gibt so viel, auf das wir stolz sein können – und es tief im Innern wohl auch sind. Warum können wir es nicht etwas mehr zeigen? Mehr Freude verbreiten? Und nicht stets in der zwar einfachen, aber auch peinlichen Opferrolle verharren. Was uns gewisse Parteien und die Medien betreffend der Enge, dem Platzmangel einbläuen wollen, ist Quatsch.


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