THESE 1 zu "Generation Respektlos" : das Jammern ist des Schweizers Lust
„Jammern hat zwei ganz natürliche Funktionen und durchaus auch etwas Gutes. Wer klagt, kann sich innerlich erleichtern. Und Jammern schafft gleichzeitig eine Verbindung. Das gemeinsame Klönen über die Finanzkrise kann demnach auch befreiend sein. Und ich höre auch Stimmen, die dankbar sind für die Krise, da sich ihr Verhältnis zum Sicherheitswahn verändert hat. Statt Geld werden Beziehungen wichtiger, gute Freundschaften. Der Glaube daran wächst, dass mir schon irgendjemand helfen und mir selbst im Alter eine Suppe reichen wird.“
„Ja aber, wenn wir nicht mehr jammern können, sind wir ja gar keine richtigen Schweizer mehr. Jammerschade.“
Leser J. Kaufmann als Reaktion zum obigen Artikel.
Ganze Wirtschaftszweige darben, auf Platz 1 die ewige Jammer-Branche Gastronomie. Noch im Jahre 2013 setzten die Schweizer Restaurants beachtliche 28,37 Milliarden Franken um. Wäre die helvetische Gastronomie ein eigenes Land, läge sie mit dieser Zahl im internationalen Vergleich der Bruttoinlands-Produkte auf Rang 110 von 188 erfassten Staaten. Die eidgenössischen Hotels, Restaurants und Bars machen also mehr Umsatz als Länder wie Georgien, Albanien, Nicaragua oder Island erwirtschaften.
Im Jahre 2015 betrug der Umsatz dann noch 22'442 Milliarden Franken, was immer noch ein ganz ordentlicher Wert ist. Aber dennoch einen Rückgang von mehr als 6 Milliarden Franken darstellt. Innert 2 Jahren müssen sich so ganze die Lokale und Gaststätten entvölkert haben.
Auch von 2011 gegenüber 2010 gab es einen massiven Einbruch. Sogar der Zentralpräsident des Verbandes Gastrosuisse gab damals zu, dass „die Nachfrage drastisch zurückgegangen ist“. Selbstkritik? Fehlanzeige. Schuld waren die „staatlichen Auflagen“, etwa in den Bereichen Alkohol, Lebensmittel und Prävention. Zwar versuche die Branche «auf Kurs zu bleiben» und investiere, die Politik lege ihr aber immer mehr Steine in Form von immer neuen und strengeren Vorschriften in den Weg, klagte der Zentralpräsident weiter.
Auch Jahre später hat sich die Selbstreflektion nicht verbessert. Wiederum sind andere die Sündenböcke.
„Die Aufhebung des Euromindestkurses durch die Schweizer Nationalbank im Jahr 2015 schlug sich in einem Umsatzrückgang nieder“, wurde die 6 Milliarden-Differenz zwischen 2013 und 2015 begründet.
In einem Tagesanzeiger-Artikel wurde ein Herbert Huber, Gastroexperte aus Stansstad zitiert. „Staatliche Auflagen sind nun einmal da, das kann man kaum ändern», sagte Huber. Aha, der erste Schritt zur Einsicht? Natürlich nicht. In der Schweiz gäbe es zu viele Beizen, der Kuchen sei leider zu klein für alle Wirte. Und: „Wenn es kriselt, sparen die Leute beim Auswärtsessen“. Jetzt sind sogar die Gäste schuld.
In der Schweiz gibt es 20'000 Gastrobetriebe. Sind das wirklich zu viele für ein Land mit fast acht Millionen Einwohnern? Österreich, etwas grösser als die Schweiz, hat ungefähr gleich viele Gastrounternehmen und Deutschland, zehnmal so gross wie unser Land hat auch ungefähr zehnmal mehr Restaurants und Beizen.
Und trotz Wirtschaftskrise, Rauchverbot und weniger Touristen – das grosse Schweizer Beizensterben wird seit Jahren propagiert. Alleine Google findet über 2'000 Einträge „Beizensterben“ auf seinen Schweizer Seiten. Ein Märchen, denn in Wirklichkeit ist die Tendenz von Restaurants eher zunehmend. Laut einer Studie kamen im Jahr 2009 über 500 Bars und Beizen, im 2008 sogar fast 600 Betriebe dazu.
Im Jahr 2012 publizierte die renommierte Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich eine beachtliche Studie zum Thema „Rauchverbot in der Gastronomie“ und kam zum Schluss: „Wir finden keine Evidenz, dass die Schweizer Rauchverbote der Jahre 2007 bis 2010 einen statistisch signifikanten Einfluss auf die aggregierten Umsätze der Schweizer Gastronomie hatten.“ Zu Deutsch: Das Rauchverbot hat keinen Einfluss auf den Umsatz.
Beim Kaffeegiganten Starbucks sind die Preise hoch und der Service mies. Vielleicht liegt das daran, dass die Innen- und die Aussenwahrnehmung bei Starbucks nicht die Gleiche ist. Das ZDF wollte es genau wissen und schickte einen Reporter Undercover hin, die Süddeutsche Zeitung berichtete darüber: „Der amerikanische Konzern pflegt nach aussen ein soziales und umweltbewusstes Image. Doch hinter den Kulissen rumort es. Mitarbeiter und Gewerkschaft werfen dem Unternehmen vor, Arbeitnehmerrechte zu missachten und die Gründung von Betriebsräten zu behindern. Das bestätigte auch ein Bericht des Nachrichtenmagazins Frontal 21 von Heiko Rahms und Thomas Münten. ZDF-Reporter Rahms ließ sich als Aushilfskraft in einer Starbucks-Filiale am Frankfurter Flughafen anwerben und bekam Einblick in die Welt der Barristas und Helfer hinter der Theke.
"Bei uns ist alles anders und sehr sozial", wird ihm bei der Einstellung gesagt. Dass die Realität anders aussieht, bekommt er bald zu spüren. Als ein Kollege, der Fieber hat, seinen Krankenschein einreichen will, zeigt sich die Chefin wenig erfreut. "Du siehst doch völlig gesund aus. Ich glaube, dass du die falsche Arbeitseinstellung hast", hält sie ihm entgegen. Rahms kranker Kollege arbeitet klaglos weiter.
Wer sich nicht fügt, werde rausgeschmissen, bestätigt ein ehemaliger Filialleiter von Starbucks dem ZDF. "Meine Aufgabe war es unbequeme Mitarbeiter rauszuschmeißen. Das war nicht schwer. Irgendeinen Grund fand ich immer und dann hagelte es Abmahnungen." Er beschreibt seine Aufgabe bei dem Konzern als Jobkiller. Abmahnungen gab es für falsche Sockenfarben, angebliche Unstimmigkeiten in der Kasse oder einen verschenkten Becher Kaffee.
Solche Schikanen trafen nach seinen Angaben vor allem Mitarbeiter, die der Gewerkschaft angehörten oder die falsche Hautfarbe hatten. "Mein Chef hat mir gesagt, dass er mich loswerden will. Ich würde zu dieser Gruppe der Afrikaner gehören, die oft krank und unzuverlässig sind", beschwert sich eine ehemalige Starbucks-Mitarbeiterin, die aus Afrika stammt, bei Rahms.
Woran liegt es, dass sich die Lokale leeren? Vielleicht an der Unfreundlichkeit des Personals? An der Inkompetenz oder Arroganz der Wirte? Jeder von uns ist zumindest schon einmal mit einem dieser Charakterzüge konfrontiert gewesen. Ich erzähle stellvertretend zwei und berichte von einer weiteren.
Story 1, Tatort Edellokal am Zürichsee
Ein Freund von mir gönnt sich zusammen mit seiner Frau einen schönen Abend und sucht ein teures und bekanntes Restaurant am Zürichsee auf. Lage gut, Preise hoch. Auf der Karte werden drei Menüs angeboten. Nun gut, denkt mein Freund, das ist halt nicht der Sternen um die Ecke. Er fragt den Kellner, ob er Menü 1 haben könne, aber mit der Beilage von Menü 3.
„Nein“, antwortet der Kellner.
„Nein?“
„Nein!“
„Und warum?“
„Weil der Koch das so nicht will.“
„Weil der Koch….“ Meinen Freund verschlägt es die Sprache. Nun muss man wissen, dass der Mann kein Freund des lauten Wortes ist. In 20 Jahren habe ich ihn ein einziges Mal wütend erlebt. Das war dann allerdings ein heftiges Donnerwetter. Und ein solches entlädt sich nun (völlig zu Recht) auch über dem sturen Koch. Denn mein Freund stürmte ohne weiteren Wortwechsel mit dem Kellner direkt in die Küche.
„Wegen Leuten wie Ihnen leidet das Image unserer Gastronomie“, schleuderte er dem Chefkoch entgegen, der natürlich niemals damit gerechnet hatte, dass seine Ablehnung, Brokkoli vom Teller 1 durch Kartoffeln vom Teller 3 zu ersetzen, ein derartiges Chaos anrichten würde.
Story 2, Tatort Gasthof im Berner Oberland
Die zweite Geschichte ereignete sich im Berner Oberländer Kunstdorf Mürren – mitten in einer der spektakulärsten Berglandschaften der Welt und daher einer der anziehendsten Touris-musgegenden wo selbst James Bond einmal die Welt gerettet hat. Dort habe ich folgenden Dialog geführt. Es ist halb zwei, ich betrete ein Restaurant und frage nach Essen:
„Es gibt nur kalte Küche.“
„Wunderbar. Dann nehme ich einen Salat“.
„Salat haben wir keinen.“
Kommentar?
Überflüssig.
Story 3, Tatort In-Lokal Mönchhof bei Zürich
Eine sehr hübsche Geschichte habe ich auf einem Onlineportal gefunden, sie könnte einem Programm von Michael Mittermaier entsprungen sein, ich kann’s kaum glauben, aber sie muss wahr sein, denn es finden sich fast hundert Kommentar-Einträge auf dieser Website, die den Artikel bestätigen. Und dieser Bericht geht so:
„Es ist Dienstagabend zirka 21 Uhr. Wir, zu zweit, vom Zürichsee kommend, verspüren einen kleinen Hunger und entschliessen uns vor dem Nach-Hause-Gehen noch schnell im Mönchhof einzukehren. Das Restaurant ist direkt am See gelegen und hat einen eigenen Hafen. An einem der vielen freien Tische bestellen wir Bratwurst vom Grill und Bier. Nach einiger Zeit wird serviert. Serviert? Die Bedienung knallt zwei in Papier eingewickelte Bratwürste auf den Tisch und legt eine Tube Senf dazu. Öhm, obs denn vielleicht noch einen Teller, vielleicht Servietten, ja eventuell sogar Besteck gäbe? erkundigen wir uns.
Ja, klar, das koste aber extra.
Extra?
Warum nicht gleich eine Stuhlsteuer? Sitzen ist unnötig, Essen kann man auch stehend.
Muss man den Senf denn auf die Tischplatte drücken? Oder direkt auf die Wurst? Natürlich hätte man auch das
Bürli als Senfbasis verwenden können, nur: Das will man ja dazu essen. Wie viel denn ein Teller koste, wollen wir wissen. Einen Franken. Angesichts mangelnder Alternativen, bestellen wir also den Teller zur Wurst und verlangen aber den Erfinder dieser Tellergebühr kennenzulernen. Die Bedienung verspricht, den Chef zu holen. In der Zwischenzeit denken wir uns noch weitere, im Grunde längst fällige Gebühren aus. Wieso gibt’s eigentlich keine Trinkglasgebühr? Die meisten Getränke lassen sich spielend aus der Flasche trinken. Oder die Stuhlsteuer? Essen kann man doch im Stehen. Oder die Bratabgabe? Würste sind auch roh lecker. Wie wär’s mit einer Restaurantbenutzungssteuer? Kochen kann man schliesslich auch zu Hause.
Irgendwann kommt dann ein kauziger Typ in roten Hosen und zurückgekämmten, langen grauen Haaren angeschlurft.
«Was hämmer für Problem?», fragte er.
Wir bitten ihn an den Tisch.
«Nei, kei Ziit, ich muen ufs Boot.»
Doch, doch, er müsse sich Zeit nehmen, wir seien doch Gäste hier.
«Nei, kei Ziit, muen ufs Boot. Was hämmer dänn?»
Na ja, die Tellergebühr.
«Das steht so in der Karte und jetzt wünsch ich eu en schönä Abig.»
Sind das nicht herrlich schräge, aber leider wahre Geschichten? Aber wenn‘s ums Jammern geht, sitzen die Wirte und ihre Lobbyisten in der ersten Reihe.
Jammerbranche Gastronomie. Es ginge schon anders. Gefunden habe ich ein erfrischendes Interview mit einem Gastronomen namens Michel Péclard, er sagt: „Nein, dieses Gejammer ist eine Gastrokrankheit. Viele sagen, sie verdienen nichts und drücken auf die Tränendrüse. Doch das wahre Problem ist, dass die meisten Gastrounternehmer den klassischen Konzepten nacheifern. Sie zeigen keinen Mut, Neues anzupacken und scheuen sich vor der Realisierung unkonventioneller Ideen.“
Auf Platz 2 meiner persönlichen Jammerhitparade figurieren die Lehrer. In der Schweiz komme es bald zum grossen Lehrer-Crash. So klagte der Tages-Anzeiger im Juni 2012 „Seit einigen Jahren herrscht in der Deutschschweiz ein grosser Mangel an Lehrpersonen.“ Und die wenigen die noch an Bord der Schulen sind, haben kaum mehr Freude an ihrem Job, der Zürcher Verband der Schulleiter findet „die Realität düster“. Ähnlich wie die Bauern (die Landwirtschaft folgt als Jammerbranche Nummer 3) können sich auch die Lehrer auf eine zuverlässige Lobby konzentrieren. So sind einerseits viele Journalisten selber ehemalige Lehrer und geben dem Thema gebührend Platz in den Medien. Anderseits darf sich die Lehrerschaft auf Unterstützung der Politik verlassen, wie im Sommer 2012 im Zürcher Kantonsparlament. Der Kantonsrat unterstützte einen Vorstoss, der eine Entlastung für Lehrer vorsieht. Die Pflichtlektionen sollen um zwei Wochenlektionen reduziert werden. „Die Arbeitsbelastung der Lehrer ist zu hoch“, sagte ein SP-Kantonsrat und ein Kollege der Grünliberalen doppelte nach: „Die Klassenlehrer können sich heute nicht mehr gebührend auf das Kerngeschäft konzentrieren. Wir wollen den Kindern keine ausgelaugten und frustrierten Lehrer zumuten.“ Das ist dicke Post. Denn erst Ende 2010 zeigte sich das gleiche Parlament grosszügig: „Wir sind sehr glücklich – es ist eine Anerkennung dafür, was Lehrer jeden Schultag leisten“, sagte Lilo Lätzsch, Präsidentin des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands, nachdem der Zürcher Kantonsrat im November 2010 entschieden hatte, den Lohn der Lehrer im Kanton Zürich anzupassen. So wurde
der Anfangslohn für Berufseinsteiger ab Januar 2011 je nach Schulstufe um etwa 8 bis 12 Prozent angehoben.
Was also soll das mit Attributen wie „überlastet“, „ausgelaugt“ und „frustriert“ Was ist da los an unseren Schulen? In Schaffhausen gab es im Februar 2012 sogar einen Lehrerstreik. Die Demonstranten forderten unter anderem eine Entlastungsstunde für Klassenlehrer. Um den Beruf vor allem auch für Berufsanfänger attraktiver zu machen, brauche es marktgerechte Löhne. Ausserdem müssten die Klassengrössen überprüft und die Unterrichtspensen reduziert werden.
Marktgerechte Löhne? Nehmen wir als Beispiel den Kanton Aargau: Der Jahreslohn einer 32-jährigen Primarlehrerin beträgt 93'588 Franken, ein 55-jähriger Reallehrer wird mit 134'472 Franken entlöhnt.
Fakt 1; das ist nicht wenig.
Fakt 2; es reicht den Lehrern trotzdem nicht.
„An den Lehrer wurden in den vergangenen Jahren laufend zusätzliche Anforderungen gestellt, während das Gehalt nur ungenügend angepasst wurde. Dadurch hat die Attraktivität der Lehrerberuf vor Allem auch bei der jungen Generation eingebüsst. So sind bereits heute mehr als ein Drittel der Lehrer über 50 Jahre alt“, lese ich auf der Website www.lohncheck.ch. Zum Lehrerstreik in Schaffhausen meldete sich ein betroffener Lehrer auf einem anderen Online-Portal: „Mir würde eine Entlastungsstunde nichts bringen, denn der Unterricht ist der schönste Teil meiner Arbeit, darauf möchte ich ja nicht verzichten. Viel mehr zu schaffen macht mir, dass die Schule mit undurchdachten oder überschnellen Reformen überhäuft wird und zum Spielball der Politik geworden ist.“ Der gute Mann scheint zu vergessen, dass es die gleiche Politik ist, die sein Gehalt bezahlt.
Es geht ums Geld und es geht um die Arbeitszeit. Ein Sekundarlehrer aus dem Kanton Zürich weigerte sich 2009 an einer Weiterbildung teilzunehmen. Dafür durfte er sich im Tages-Anzeiger ausweinen. „Im Jahr 2000 hat der Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor eine Arbeitszeitstudie betreffend der Belastung der Lehrkräfte in Auftrag gegeben. Ein Zürcher Sekundarlehrer arbeite demnach im Durchschnitt pro Woche 46,6 Stunden – berechnet auf der Basis von vier Wochen Ferien. Ein kantonaler Beamter hat bei vier Wochen Ferien und abzüglich der Feiertage ein vorgeschriebenes Wochensoll von 42 Stunden. Hoppla: macht für den Sekundarlehrer eine Überzeit von 216 Stunden pro Jahr.“
Sie jammern, sie klagen, sie schimpfen - und sie übertreiben ganz schön. Der Schulleiterverband des Kantons Zürich (VSLZH) hat ebenfalls eine Umfrage gemacht und kommt zum Urteil: „Viele Schulleitende sind überarbeitet und daher nur bedingt in der Lage, ihre vielfältige Aufgabe vollumfänglich wahrzunehmen. Die Zahl der Mehrstunden von Schulleitenden nimmt in vielen Fällen gesundheitsgefährdendes Ausmass an.“
Gesundheits-gefährdend? Wenn bereits Lehrer einen gefährlichen Job haben, was ist dann mit Busfahrern, Autobahnarbeitern, Chemikern, Fabrikangestellten, Putzfrauen? Von Feuerwehrleuten oder Polizisten ganz zu schweigen?
Vielleicht sollten die Lehrer weniger jammern und ihre Berufsverbände weniger Umfragen durchführen. Und sich wieder auf das konzentrieren, was sie eigentlich tun sollten. Lehren. Unseren Kindern was beibringen und nicht ständig in der Öffentlichkeit stehen und zu schimpfen, von Überforderung zu schwafeln. Was sind denn das für Vorbilder?
Die Lehrer wissen übrigens sehr wohl um ihr Jammer-Image. 2011 nahmen an einem Berner Lehrertag 5000 Lehrer teil und es gab die üblichen Klagen über die Rahmenbedingungen in diesem Beruf. „Dass sie in der Öffentlichkeit vor allem durch Jammern auffallen, gefällt jedoch nicht allen Lehrern“, schrieb die Berner Zeitung. Vielleicht ist es einfach eine Krux, heute Lehrer zu sein.
"Die Schulen, so wie sie heute sind, sind weder den Bedürfnissen des jungen Menschen, noch denen unserer jetzigen Epoche angepasst."
Dieses Zitat ist über 70 Jahre alt. Maria Montessori hat es 1939 gesagt.
Die Jammer-Branche Nummer 3 ist die Landwirtschaft. Die Bauern sind erstaunlich laut, denn sie leisten nur noch einen Dreissigstel an das Schweizer Bruttoinlandprodukt. „Ich glaube nicht, dass die Bauern eine Berufsgruppe bilden, die mehr jammert als andere. Sie sind nur besser organisiert und kommunizieren schlagkräftig. Das bewirkt, dass sie sehr prominent wahrgenommen werden.“, machte im 2011 der damals zurücktretende Direktor des Bundesamtes für Landwirtschaft, Manfred Bötsch Propaganda für seine Klientel. Die Bauern werden aber stets gehört, wenn sie ihre PR-Maschinerie anwerfen Für die Herbstsession 2012 war die sogenannte „Agrarreform 2014-17“ angesetzt, kurz zuvor organisierte der Bauernverband eine Medienkonferenz und stellte stellvertretend für die darbende Branche Hansjürg Stalder aus dem bernischen Gümmenen vor. Brav tappten die Journalisten zum Bauer Stalder und notierten kritiklos mit, im Tages-Anzeiger sah das dann so aus: „Als Abgeltung für die erbrachten Leistungen bekommt Stalder aktuell knapp 40'000 Franken Direktzahlungen. Werde die neue Reformrunde der Agrarpolitik wie vom Bundesrat vorgeschlagen genehmigt, dann schrumpfe dieser Beitrag auf 36'000 Franken. Davon seien aber fast 10'000 Franken sogenannte Übergangsbeiträge, die sukzessive abgebaut würden, führte der Bauernverband aus. Hansjürg Stalder könne die 36'000 Franken nur dann halten, wenn er zusätzliche Leistungen bei Ökologie oder Tierschutz erbringe und damit die Lebensmittelproduktion seines Betriebes zurückfahre. «Ist es nicht die Hauptaufgabe von uns Bauern, die einheimische Bevölkerung mit gesunden, umwelt- und tierfreundlich produzierten Lebensmitteln zu versorgen», fragt sich der Bauernverband besorgt.“
Eine gute Lobby ist wertvoll. Keine andere Branche ist im Parlament so einflussreich wie die Bauern. Ende 2010 sassen alleine im Nationalrat (also der grossen Kammer des eidgenössischen Parlamentes) 27 Bauernvertreter und das bei 200 Nationalräten. Fast jeder sechste Schweizer Nationalrat hat also etwas mit der Landwirtschaft zu tun. Mit 17 Sitzen hatte die SVP mit Abstand am meisten Bauernvertreter. Auf Platz zwei lag die CVP mit 10 Vertretern. Die restlichen Bauernvertreter waren auf FDP, SP, BDP und Grüne verteilt.
Die Verteilung der Bauernsitze im Nationalrat auf verschiedene Parteien ist ein entscheidender Vorteil. Denn dadurch kann die Bauernlobby breit mobilisieren und bringt so Mehrheiten zusammen. Die Lobby erreicht, dass die Bauern trotz Sparprogramm nicht sparen müssen. Die Bauern in der Schweiz können sich nicht über ihre Vertreter im National- und Ständerat beklagen. Sie leisten ganze Arbeit, denn der Bauernlobby gelingt es immer wieder, an mehr Bundesgelder zu kommen, als ursprünglich budgetiert ist.
Nochmals zurück zum Direktor des Bundesamtes für Landwirtschaft, Manfred Bötsch: „Es geht jenen Landwirten gut, die es schaffen, die heutigen, vielseitigen Möglichkeiten unternehmerisch optimal zu nutzen. Betriebe, die sich zu stark vor den unternehmerischen Freiheiten fürchten, sind heute stärker unter Druck als früher. Das durchschnittliche Einkommen aller Betriebe hat sich parallel zur übrigen Bevölkerung entwickelt, aber die Einkommensschere innerhalb der Branche geht auf.“
Im Sommer 2012 fragte der Blick polemisch in einer Schlagzeile:
„Jammern die Bauern eigentlich immer?“
Es gibt noch 57'000 Landwirtschafts-Betriebe in der Schweiz, Tendenz rückläufig. Ist daran die Politik schuld?
Oder vielleicht einfach die Marktwirtschaft? Der Berner Bauer und SVP-Nationalrat Andreas Aebi spürte gemäss Blick „eine gewisse Resignation. Vor allem auch bei den jungen Bauern. Der Milchpreis wurde wieder gesenkt und keiner tut was dagegen. Das ist schon sehr demotivierend.“
Geben Sie in einer Internet-Suchmaschine mal die Begriffe „Bauern jammern“ oder „Bauern fordern“ ein, sie erhalten sofort zehntausende Einträge.
Das starke Lobbying, das publikumswirksame Jammern wirkt. Laut einer Studie von 2009 sind die Schweizer mit ihren Landwirten nämlich zufrieden: „Acht von zehn Befragten sind der Meinung, die Bauern seien bestrebt, das zu produzieren, was der Konsument wünscht und sie handelten unternehmerisch. Drei Viertel denken, den Bauern sei die Landschaftspflege wichtig und zwei Fünftel halten die Bauern für mehrheitlich innovativ. Im Vergleich zu früheren Befragungen hat sich das Image der Bauern bei der Bevölkerung verbessert.“ Gute Noten also von den Nichtbauern. Wie aber sieht sich die Landwirtschaft selber? Kaum erstaunlich, aber deren Selbstbild ist weniger gut: „Die Schweizer Bauernschaft ist 2009 ungefähr gleich zufrieden wie vor vier Jahren, wie die Studie zur Befindlichkeit der landwirtschaftlichen Bevölkerung zeigt. Deutlich gesunken ist die Zufriedenheit mit den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Fast ein Drittel (32%) der landwirtschaftlichen Bevölkerung glaubt, dass sich ihre finanzielle Lage im kommenden Jahr verschlechtern wird, im Jahr 2005 waren es nur 20%.“
Allerdings müssen wir hier auch einen kleinen Einschub zugunsten der Schweizer Landwirtschaft machen. Ein Schweizer Bauer kämpft mit anderen Ellen als sein Berufskollege in Belgien oder den USA. 70% der Schweizer Fläche wird nämlich den sogenannten „Berg- und Hügelgebieten“ (also Alpen, Voralpen und Jura) zugeschlagen. Das beschränkt die Betriebsgrösse. Ungefähr ein Viertel der Landesfläche kann überhaupt als landwirtschaftliche Nutzfläche verwendet werden. Mehr als die Hälfte der Schweizer Bauernbetriebe befinden sich in Berg- oder Hügelgebieten, dort, wo sich oft auch ein gehäuftes Tourismusangebot befindet. Seit 1990 sind etwa ein Drittel der Bauernhöfe verschwunden und es arbeiten noch knapp 170'000 in der Landwirtschaft. Das Einkommen ist um einen Drittel zurück gegangen, während die Preise für die Konsumenten nur um 14% gestiegen sind.
Indische Verhältnisse in Schweizer Zügen
Wer es im Jammerland Schweiz auch besonders schwer hat, sind die SBB, egal was die Bundesbahn macht, die Medien reagieren pikiert und ziehen stets einen wahren Rattenschwanz von Besserwissern hinter sich her. Am 10. April 2012 jammerte der Blick in dicken Buchstaben: „Kein Sitzplatz von Bellinzona nach Zürich - Indische Verhältnisse bei den SBB“. Der Bundesbahn ist das Problem bekannt, intern gibt es längstens Pläne gegen dieses Malheur, vier Monate später dann die Information, dass auf verschiedenen Strecken künftig S-Bahnzüge eingesetzt würden. Die sind Doppelstöckig und enger gestuhlt, es hat also auf gleich viel Boden Platz für mehr Menschen. Und was macht der Blick? Wieder das Haar in der Suppe suchen und natürlich finden: „Die SBB setzen in Zukunft auch auf längeren Strecken S-Bahnzüge ein. Das Resultat: Weniger Platz, weniger Komfort. Trotz höheren Preisen.“ Bei beiden Artikeln waren die Kommentarspalten in der Onlineausgabe der Boulevard-Zeitung gut gefüllt.
Und wenn uns gar nichts mehr einfällt, dann jammern wir über das Wetter. Nach einem Wetterwechsel von ca. 30 auf etwa 15 Grad lamentierte einer Online: „Wettermässig sind wir ja hier nicht wirklich gesegnet...“ Das muss jemand sein, der noch nie über den helvetischen Tellerrand geschaut hat.
Das Jammern ist also des Schweizers Lust – aber wir sind nicht allein im Jammer-Universum. Laut einer Umfrage der EU-Kommission aus dem Jahre 2008 (es wurden mehr als 25'000 EU-Bürger befragt), glaubten mehr als zwei Drittel der Deutschen, dass es ihnen in 20 Jahren schlechter gehen wird als heute. Wieder einmal ein Grund mehr zu bedauern, dass die Schweiz nicht zur EU gehört. So wären wir wenigstens in einer bedeutenden Kategorie Europameister. Die Deutschen würden wir locker hinter uns lassen.
Endlich Europameister – endlich vor Deutschland
Die Spanier sahen trotz Finanzkrise ihre Zukunft rosiger als die verwöhnten Deutschen. In Spanien glaubten 47% an ein besseres Leben, am optimistischsten waren die Iren und Esten. In diesen Ländern sahen zwei Drittel der Bewohner die Zukunft rosig. Dies hat sich unterdessen und wegen dem Welt-Ober-Jammerer im Weissen Haus vermutlich auch wieder etwas geändert.
Bauern, Wirte, Lehrer jammern. Aber auch Assistenzärzte, Mütter, Fussballfans. Wer ist eigentlich noch glücklich in diesem Land? Dabei ist uns allen klar; wir jammern auf hohem Niveau. Der Buchautor und Psychologe Markus Fäh hat 2008 das Buch „Schluss mit Jammern, das Leben kommt von selbst“ geschrieben und er stellt fest: „Ich werde ständig mit Jammern konfrontiert, da jeder mit einem Problem zu mir kommt. Es braucht ja ein Leiden, um Hilfe aufzusuchen. Manche meiner Patienten wollen mich instrumentalisieren, quasi als bezahlten Freund auf Lebzeiten, um ihr Gejammer loszuwerden.“
Der Fachmann hat auch eine These, weshalb wir so gerne klönen, schimpfen und möögen: „Das christlich-jüdisch geprägte Über-Ich, diese Kritikinstanz in uns, bestimmt das Denken und Handeln. Und diese Moralinstanz stellt extrem hohe Anforderungen an uns. Wir leben ja in einer Leistungskultur. Um jammern zu können, braucht es diese innere Instanz, die ständig kritisch hinterfragt. Die Leichtigkeit des Hier und Jetzt wie etwa im Buddhismus kennt dieses permanente Hinterfragen der eigenen Fähigkeiten nicht. Und in Kulturkreisen, in denen das Eltern-Kind-Verhältnis entspannter ist, konnte sich das Jammern weniger etablieren.“ Und er kommt zum traurigen Urteil, dass „Männer die viel grösseren Jammerer sind, obwohl es das traditionelle Bild des Klageweibes gibt. Die Frau ist zu Hause für den Mann oft nur eine Klagemauer, um Ärger und Frust Luft zu machen, damit er dann nach aussen wieder den Zampano spielen kann.“
Sie sind also gut vertreten, die schimpfenden Rohrspatzen, die Jammerlappen, die Ewiggestrigen und die Nörgler. Meine These steht. Belegt mit Beispielen, Zitaten, Ausschnitte, Studien. Perfekt.
Perfekt?
Und nochmals Europameister – in der Zufriedenheit
Nun kommt die grosse Überraschung. Der Schweizer und die Schweizerin sehen sich selber gar nicht so. Im Gegenteil. Wir sind ein einig Volk von Zufriedenen. Das ergibt eine Studie von 2010. Mehr als drei Viertel von über 1000 Befragten haben ihrem Leben – auf einer Skala von eins bis zehn – die Noten 8, 9 oder 10 gegeben. Gemäss den Ergebnissen erreicht die Schweiz – zusammen mit Dänemark – den Spitzenwert. Weit vor Finnland, Kanada oder Australien. Ältere Schweizer seien fast genauso zufrieden wie jüngere, kommt die Studie zum Schluss. Unterschiede zwischen Deutschschweizern und Romands oder Frauen und Männern gebe es praktisch nicht. Das Geheimnis des Schweizers Glücks: Je höher die Kaufkraft, desto zufriedener sind offenbar die Menschen. Leute mit hohem Einkommen würden ihrem Leben im Durchschnitt die Note 8,7 geben, Personen mit geringerem Einkommen die Note 7,7.
Meine Jammer-These fällt also in sich zusammen wie das berühmte Kartenhaus. Die These hält nicht stand. Einerseits jammern wir wirklich gerne, trotzdem sind wir glücklich. Das Jammern ist also nicht der Grund für die sich ausbreitende Volkskrankheit Scheiss-Egalitis.
Die nächste meiner Thesen heisst „Es ist eng in der Schweiz“. Könnte die Ausbreitung der Volkskrankheit damit etwas zu tun haben?
Die Schweiz ist immerhin kleiner als die deutschen Bundesländer Bayern oder Niedersachsen, kleiner als der US-Bundesstaat Pennsylvania oder der Lake Superior zwischen den USA und Kanada. Bei uns leben weniger Leute als in Bagdad, als in Honduras, in Haiti oder auf Kuba.
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