Montag, 6. Februar 2017

Unterwegs im Kinderwagen-Wagen ….oder über unseren Umgang mit dem Windel-Gesindel

Sie heissen En, Bo oder An und sollen unsere Zukunft sein. Die Kinder des 21. Jahrhundert kriegen nicht nur immer absurdere Namen, sondern sie werden auch von immer ehrgeizigeren Eltern ständig auf Online-Portalen dargestellt und ausgestellt, sie tragen Marken-Strampler oder kauen auf Marken-Nuggis und werden dauernd durch die Gegend gekarrt. Vom Götti in Wipkingen zum Geigen-Unterricht in Hottingen zur Kita in Wollishofen. Was für ein Stress für die Babys unserer Zeit. Und was für eine Anstrengung der Eltern, all diesen modernen Anforderungen gerecht zu werden. Ganze Armadas von Kinderwagen sind täglich auf unseren Strassen unterwegs.
Dabei wäre die Lösung so einfach: Leute, hört mal wieder den Babysitter-Boogie. Und lächelt. Lächelt!





Mein Girl hat keinen Tag für mich alleine Zeit
Zum Küssen fehlt uns meisten die Gelegenheit
Weil immer dann das Baby in der Wiege schreit.
Ach köstlich, der Babysitter-Boogie, ein One-Hit-Wonder von Ralf Bendix.
Und es gibt immer weniger Kuss-Gelegenheiten, denn es gibt immer mehr Babys. Fast 87‘000 Kinder sind 2015 in der Schweiz zur Welt gekommen. Baby-mässig wächst unser Land jedes Jahr um die Einwohnerzahl der Stadt Luzern.
Seit 2003 hält dieser Babytrend an. Und entgegen der landläufigen Meinung sind die Jungs mit 44‘649 gegenüber den Mädels mit 41‘910 deutlich in der Überzahl. Baby-Wunderland Schweiz im Allgemeinen und Baby-Wunderstadt Zürich im Besonderen. 
Die aktuellsten Zahlen weisen für Zürich 29‘371 Kinder im Alter von 0 bis 6 Jahren auf. Gegenüber dem Jahr 2000 ist das eine Zunahme um sagenhafte 38 Prozent. Zum Vergleich; in der gleichen Zeit hat die Bevölkerung der Stadt Zürich „nur“ um 14 Prozent zugenommen.

In Zürich leben somit mehr Kleinkinder als eine Stadt wie Zug, Rapperswil oder Aarau gesamthaft Einwohner hat.

Aber jede Medaille hat ja bekanntlich ihre zweite Seite und ohne dass ich den Eltern irgendwie zu nahe treten will, aber manchmal beschleicht mich schon der (leider längst nicht mehr leise, sondern sehr laute) Verdacht, ein Neugeborenes werde inzwischen genauso wie eine Trophäe behandelt wie das neue Auto, das neue Smartphone oder die neuen Stiefeletten von Mama. Hauptsache urban, in, cool. Dafür, dass das so ist, gibt es einige Indikatoren. Das zeigt sich zum Beispiel bei der Namenswahl. Zwar liegen die trendigen Mia, Emma und Lara bei den Mädchen oder Noah, Liam

und Luca bei den Knaben immer noch ganz vorne. Da aber auch in der Kindernamen-Kürze die Würze zu liegen scheint, geht der nächste Trend schon Richtung (kein Witz) An, Bo, El oder En.
Bitte!
El Rüdisühli? Oder Bo Bommeli?
Doof.
Noch bekloppter scheinen amerikanische Eltern zu sein, denn dort, im Land der Millionen übergeschnappten Trumps, werden Kinder anscheinend gerne und immer häufiger wie ein Filter des Fotodienstes Instagram genannt. Also Lux, Willow oder Juno. Ein
israelisches Baby muss komplett Facebook-durchgeknallte Eltern haben, denn diese nannten ihr Kind „Like“.
Like Rosenbaum?
Apropos, auch so eine Unsitte: Die armen Babys können sich gar nicht wehren und werden Online auf Teufel komm raus gepostet, gesnappt und geliked. Die werden sich freuen, wenn sie mal Jugendliche oder Erwachsen sind. Danke Mama und Daddy für die ach so lustigen Instagram-Videos. Vielen Dank….
Deren Eltern sind halt die Generation Millenium, aufgewachsen mit Computern und verwachsen mit dem omnipräsenten Smartphone in der Hand.
Dieses legen sie natürlich auch dann nicht zur Seite, wenn sie unterwegs sind. Fahren Sie mal in den Morgen- oder Feierabend-Stunden mit dem ÖV durch Zürich. Es sind nicht die Buchhalter, IT’ler und Verkäuferinnen die auffallen. Es ist wie in einem Stephen King-Roman, ich wüsste sogar schon einen Titel: Der Angriff der Killerkinderwagen. Mancher Bus ist gefüllt mit vier, fünf, sechs Babykutschen, kaum wird ein Kinderwagen an einer Haltestelle (natürlich begleitet von ächzendem Stöhnen) aus dem
Bus gewuchtet, wird schon das nächste Baby-Mobil hineingeschoben, man wähnt sich im Kinderwagen-Wagen.

Nein, ich habe nichts gegen Kinderwagen im Tramwagen, es macht mir nichts aus, im Kreuz eine Schiebestange und am Fussknöchel ein Rad zu spüren. Schon okay. Wir sitzen alle im selben Tram, auch ich will bloss nach Hause.
Komischerweise hat diese „Ich bin dann mal mit dem Babywagen weg“-Manie ungefähr zur gleichen Zeit eingesetzt, wie die VBZ immer mehr Niederflur-Trams und Busse eingesetzt haben, die sich zum Trottoir hin absenken können. Noch vor weniger als zehn Jahren habe ich einer guten Freundin regelmässig geholfen, ihren Kinderwagen die mühsamen und zu engen Tram-Treppen hochzuwuchten. Und dann waren wir meistens auch die Einzigen auf dem Roadtrip.
The times go by. Heute verwandeln sich die Busse und Trams zur Rush-hour in Kinderwagen-Wagen, kreuz und quer stehen die Mamas, beugen sich (wenn auch selten) lächelnd ins Innere ihres Baby-Mobils oder scrollen auf ihrem Handy (meistens) auf der Suche nach dem nächsten Baby-Kick. Wer hat das schönere Kind? Wer hat den originelleren Namen? Wessen Nachwuchs besucht schon den Hochbegabten-Kurs für Novizen-Cha-Cha-Cha? Sie tun mir zwar leid, diese Trend-Frauen, die meistens hübsch anzusehen und topmodern gekleidet sind, wie sie durch ihr Leben flitzen, ihre Karrieren und/oder den Haushalt managen und wie sie bei all dem auch nie den Überblick über ihre An’s, Bo’s oder En‘s verlieren dürfen.
Aber; man fühlt sich als Nicht-Kinderwägeler schon fast wie ein Outsider oder gerade wie ein noch knapp geduldetes Mitglied in der Kaste der Kinderwagen-Wagen-Mitfahrer.

Dann ist mir dieses fürchterliche Malheur passiert. Ich habe beim Einsteigen in einen Bus einen querstehenden Kinderwagen „touchiert“.

Ohalätz, wie der geneigte Schweizer dazu sagt. Das geht aber gar nicht. Sofort hat die Mutter ihr Handy beiseitegelegt und sich keifend auf mich gestürzt. Was mir einfalle. Das Baby hätte geschlafen. Es könne nichts dafür.
Wofür? Meine Zwischenfrage wäre berechtigt gewesen. Dafür nämlich, dass der Kinderwagen eindeutig behindernd dagestanden hat, dass ein Vorbeikommen ohne „Touchieren“ schon arg ins Artistische gegangen wäre. Doch diese Frage ging natürlich im stets heftigeren Zeter und Mordio unter. Die heilige Zürcher
Mutter in ihrem schweren Alltag aufzuschrecken scheint also ein Sakrileg.
Ich solle besser aufpassen, nicht den Wagen schubsen. Auch mein Einwand, sie hätte ihren Wagen nicht quer zu stellen brauchen, ging natürlich unter. Wie soll man sich auch Gehör verschaffen, wenn ein Mamatier zu fauchen beginnt.
Fauchen, schimpfen, fordern.
Als ob wir in einer totalitären Anti-Baby-Welt leben und wir Nicht-Kinderwägeler auf der Stirn das Motto: Hinfort mit Euch kreischendem Windel-Gesindel tätowiert hätten. 
In den Augen vieler Eltern scheint Zürich sowieso der Anti-Christ unter den Schweizer Städten zu sein, denn ich habe mehrere Artikel und Blogs gefunden, die sich ausschliesslich dem weltbewegenden Thema „Wie rücksichtslos ist Zürich zu seinen Kleinsten“ gefunden.
Darum erlaube ich mir an dieser Stelle den Einschub; jeden Tag verhungern weltweit 18‘000 Kinder unter fünf Jahren. Das sind mehr tote Kinder als der trendige Zürcher Stadtteil Seefeld Einwohner hat.
Besonders genüsslich lassen sich die empörten Schreiberinnen über den Missstand aus, es gäbe in Zürich zu wenig Baby-freundliche Restaurants.

Ich habe eine Blog-Kollegin gefunden, die schreibt doch tatsächlich: Wie oft habe ich also „kinderfreundliche Cafés Zürich“ gegoogelt, wie oft mit Freundinnen besprochen, wo es denn einigermassen akzeptabel wäre, mit einem Kinderwagen und krabbel-brabbelnden Kleinkind aufzukreuzen. Ich machs kurz: Es gibt nichts.
Machen wir einen hurtigen Abstecher in die Philosophie. Der Deutsche Georg Wilhelm Friedrich Hegel definierte es so: Nichts, das reine Nichts, vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit.
Und damit zurück zu unserer Bloggerin, ich zitiere die gute Frau im Kontext zum Thema „kinderfreundliche Cafés Zürich“ nochmals: ES GIBT NICHTS. Ich musste das nochmals explizit erwähnen, denn nur ein paar Zeilen weiter unten listet sie auf, wo sie und der Nachwuchs dann doch willkommen sind. Und zählt auf und zählt auf und lobt und lobt und in den Kommentar-Spalten kommen weitere gute Tipps dazu.
Als nächstes beschweren sich die Hochgewachsenen, dass die Türen zu klein sind, die Zeitungsleser, dass das Toggenburger Tagblatt fehle, die Spieler, dass es keine Jasskarten habe, die Sänger, dass es keine Bühne gäbe, die Patrioten, dass keine Schweizer Fahne an der Wand hänge, die Hundebesitzer, dass Bello nicht kacken kann, die Traditionalisten, dass sie das Aromat vermissen...

Als ob aber die obenerwähnte Bloggerin ahnen würde, dass sie vielleicht ein Wespennest treffen könnte, schiebt sie möglichen Bashern präventiv den Riegel:

 
Ich lese sie schon, die „Coffee-Shaming“-Kommentare von wegen „eine Mutter hat mir ihrem Kind auf dem Spielplatz zu stehen und nichts in einem Café zu suchen“. Ehm, möööp. Wer das gerne schreiben möchte, darf gerne nächstes Mal mit mir und meinen Kids in ein Café kommen.

Motzen Ja, aushalten Nö.
Mütter dieser Welt, streamt doch einfach mal wieder den guten alten Babysitter-Boogie, lädt ihn runter, spielt ihn El oder An vor, legt dann das Smartphone weg - und lächelt.
Lächelt!

Doch wenn mal so ein Baby dir und mir gehört
Werd' ich es sein
Der täglich es spazieren fährt
Dann sing ich mit dem Babylein den Babysitter-Song





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Ich liebe die Comedy-Show „Willkommen Österreich“, den kanadischen Sänger Bryan Adams, den besten Eishockeyclub der Welt ZSC, den genialen Schreiber James Lee Burke, die TV-Serie „The Newsroom“, die wunderbaren Städte München, New York und Zürich, Grapefruitsaft, Buddha, Bill Clinton, Enten und saftige Wiesen. Das bin ich. Stefan Del Fabro

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