Dienstag, 25. Juni 2019

Grüne Spuren


"Der Morgen danach ist immer der quälendste Moment. Wenn sie weg ist. Diese gute Zuversicht, diese Freude, wenn die Neugierde weicht und der Tageszorn übernimmt. Dabei sind das die magischen Momente des Monats. Wenn ich sie sehe. Wenn ich sie erkenne. Wie sie ihre Arbeit verrichten und ich mich frage; sind sie fröhlich? Empfinden sie stolz? Oder tun sie einfach ihr Werk, getrieben von der Evolution, im immer wieder kehrenden Rhythmus der Jahreszeiten? Sie kommen, sie bauen Nester, sie vermehren sich, sie ziehen auf, füttern und ziehen wieder weg. Nur um das Ritual zu wiederholen. Je nach Art schon bald, andere nur einmal jährlich.


„Die Mönchsgrasmücke ist ein unscheinbarer schlanker Vogel, sein Gesang aber ist Weltklasse.“ Wie Christian das sagt, beginnen seine Augen zu leuchten. Nicht nur ein Vogel-Fan wie ich, sondern ein Ornithologe, ein Kenner, einer, der auszog, sich Wissen anzueignen, um nachhaltig zu wirken. Und der sein Wissen nun liebevoll und sachkundig weitergibt. An Leute wie mich, die höchstens die Amsel vom Spatzen unterscheiden können, die die Taube auf dem Dach sehen und sich fragen, warum die alle gleich doof aussehen - und sich dabei formidabel irrt. Türkentaube, Ringeltaube, Strassentaube, Hohltaube, Turteltaube. Das sind nur fünf der insgesamt über 300 Taubenarten, die es gibt auf der ganzen Welt. Und doof – wie die Brieftauben beweisen – sind sie auch nicht.
Bei der grössten übrigens, der Neu-Guinea-Fächertaube, würden wir Europäer zusammenzucken, erreicht die doch das stolze Gewicht von 2 Kilo. Die können also schwerer werden, als so mancher Pudel.
Aber weg von den Hunden und den Tauben, zurück zum Zaunkönig, dem Turmfalken, der Mönchsgrasmücke, der Schnatterente oder der Kohlmeise.
Das Artensterben beunruhigt mich. Also besuche ich einen Ornithologie-Kurs, lerne in der Theorie und gehe dann unter fachkundiger Führung in die Natur, an den See, in das Sumpfgebiet und lasse mir von Christian, Larissa oder Michel erklären, wie die Vögel leben, was sie benötigen. Und was ich tun kann, um meinen Beitrag zu leisten, damit deren Habitate geschützt bleiben.
Ich geniesse das. Als Stadt-Indianer bewege ich mich ansonsten eher auf Festivals, gehe an Lesungen, Konzerte, treffe Freunde auf ein Bier oder zwei, bin beim Fussball oder Eishockey, mache Reisen. Aber ich weiss kaum, was um mich herum singt und ruft, dabei geht mein Schlafzimmer ins Grüne, ich höre die Vögel jeden Morgen und kann sie doch nicht unterscheiden.

Auf diesen Exkursionen hat sich mir ein Ort eingeprägt. Es ist eine Wand hinter dem mächtigen Prime Tower an der Hardbrücke. An dieser Mauer haben die Architekten eine Art Efeu hochgezogen. Darin nisten zwei Stieglitz-Paare. Das ist übrigens ein unglaublich hübscher Vogel, mit seinem rot-schwarz-weiss gestreiften Kopf und seinen gelben Flügelfedern. An der Wand hinter dem Hochhaus sitzen sie also, ich stehe da mit meinem Gucker, schaue hoch und plötzlich fällt mir auf, dass einer der Stieglitze wütend zu schimpfen beginnt. Schimpfen? Wütend? In der Tat. Denn, er will offensichtlich da durchfliegen, wo ich stehe. Aber weil das nur ein schmaler Durchgang ist, traut er sich nicht. Also schimpft er mich weg. Es gelingt. Als ich drei Schritte zur Seite mache, saust der Vogel an mir vorbei und verschwindet in einem Gebüsch.
Obwohl ich gerade von einem 16 Gramm leichten Wesen verdrängt worden bin, macht sich ein gutes Gefühl breit.
Vielleicht sollten wir alle mehr auf die Vögel hören? Selbst wenn sie schimpfen. Denn; sie berechnen nicht was sie tun. Aber sie wissen, was sie tun. Vielleicht ganz im Gegensatz zu uns Menschen.

Diesen Text habe ich geschrieben für die Lesung "Wilder Wuchs von Wörtern". Durchgeführt wurde die Veranstaltung am Samstag, 22. Juni, Nachmittags. Ich habe mich sehr gefreut, wurde mein Text ausgewählt. 

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