Dienstag, 24. Januar 2017

Winterthur ist Finnland:  Er hat John Malkovich nach Winterthur geholt, Joschka Fischer fast und die Applaus-Messung eingeführt. Nun verlässt Direktor Marc Baumann das Stadttheater Winterthur nach fünf Jahren.
Es ist schon erstaunlich, was eine einzige Idee alles auslösen kann. «Das deutsche Magazin „Der Spiegel“ nannte mich einen Theaterdepp», sagt Marc Baumann und kann rückblickend darüber schmunzeln. Mit der Einführung der sogenannten Applaus-Messung hat das Stadttheater im Herbst 2011 weit herum für Furore gesorgt. «Wir wollen keinen Wettbewerb unter den Stücken» hiess es zum Beispiel von der Oper Zürich, ähnlich tönte es vom Schauspielhaus Zürich. «Das war gar nicht die Absicht, denn wir wollen mit dem Publikum kommunizieren», begründet der Noch-Direktor «und wir nehmen via diesem Applausometer auch nicht Einfluss aufs Programm. Wozu auch?» Aber es gab auch prominentes, positives Feedback. «Der Intendant von Dresden war kurz darauf hier und fand die Idee toll.» Der Applaus-Koeffizient ist nach wie vor auf der Website des Stadttheaters aufgeschaltet und wird nach jeder Vorstellung ergänzt. Vielleicht ist so mittlerweile die grösste Theaterapplaus-Sammlung der Welt entstanden und aus dem Spiegel-Depp von damals ein Visionär geworden.
So nahe liegen also Freud und Leid für einen, der im Sommer 2009 aus der Selbständigkeit in die scheinbare Behäbigkeit eines staatlichen getragenen Theaters gewechselt hatte. Behäbig war es in Winterthur dann überhaupt nicht, das beweist nicht nur die Applaus-Geschichte.
Die Bretter, die die Welt bedeuten, waren dem neuen Direktor nie fremd gewesen. In seinen beruflichen Anfängen hat Baumann als externer Berater am Aufbau des renommierten Teatro Dimitri im Tessiner Dorf Verscio mitgearbeitet, später war er Stabschef des Zürcher Stadtpräsidenten (und damit des Kulturministers) Elmar Ledergerber und danach zwei Jahre kaufmännischer Leiter des Schauspielhauses Zürich.
Nun tritt er in Winterthur ab und kann nicht viel damit anfangen als eine Zeitung schrieb, er verlasse das Stadttheater bereits nach fünf Jahren. «Vielleicht habe ich einen etwas abenteuerlichen Lebenslauf», gesteht der Theaterdirektor im Gespräch. Freud, Leid und Höhepunkte gab es viele in diesen fünf Baumann-Jahren. Und auf die Frage nach dem grösseren Ereignis reagiert Marc Baumann lachend. «John Malkovich oder Peter Sloterdjik? – beide waren grossartig, auch wenn der deutsche Philosoph viel nachhaltiger gewirkt hat.» Dafür sei die Begegnung mit dem berühmten Schauspieler Malkovich (dieser hat fast 90 Filme gemacht und wurde zweimal für den Oscar nominiert) vor zwei Jahren für sein Haus natürlich etwas ganz Besonderes gewesen. «Er hatte weder Starallüren noch Berührungsängste. Nach seinem Auftritt als Casanova kam Malkovich in das Foyer, plauderte mit den Leuten und liess sich fotografieren.»
Joschka Fischer sagt ab
Nur ein paar Wochen vor Malkovich war in Winterthur ein weiteres Schwergewicht angekündigt. Der ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer war geladen und wollte reden über globale Herausforderungen, Nachhaltigkeit und die Grenzen des Wachstums. Aber dann gab es Drohungen. Stadt- und Kantonspolizei waren in Alarmbereitschaft, achtzig Aufpasser wurden bereitgestellt, man kam nur noch mit Spezialausweis hinein. Da zog Fischer die Reissleine. Am Abend zuvor sagte er dem Theater per Mail ab.
Malkovich, Sloterdjik, fast Fischer, namhafte Autoren wie Mankell oder Lewinsky die aus ihren Büchern lasen, berühmte Schauspieler, bekannt aus Film und Fernsehen, sie alle sind in der Baumann-Zeit in Winterthur gewesen. Stars sind für ein Haus dieser Grösse wichtig, aber sind sie nicht auch so was wie die Schoggisträusel auf dem Capuccinoschaum? Es ginge irgendwie auch ohne?
Sehr stark beschäftigt sich Baumann mit der allgemeinen Bedeutung des Theaters. «Gesellschaftlich relevante Fragen müssen auf allen Ebenen diskutiert werden. Und so sehen wir unsere Aufgabe, nebst der kulturellen und unterhaltenden auch darin, bedeutende Zeitthemen aufzunehmen und die Diskussion zu fördern». 2012 fand ein vielbeachteter Nachhaltigkeits-Event im Haus statt.
Baumann war es von Anfang an wichtig, mit den Menschen in der Stadt auf Tuchfühlung zu sein und eine Offenheit zu allen Institutionen zu pflegen. Als anderes Beispiel für diese lokale Zusammenarbeit spricht er von einem Tanzstück in finnischer Sprache. Finnisch im Stadttheater? Das Theater suchte daraufhin Unterstützung in der Stadt und fand dreissig ganz unterschiedliche Partner, plötzlich sei das nördliche Land inhaltlich und optisch präsent gewesen. Winterthur ist Finnland. Das finnische Tanztheater passte nun wunderbar in den Kontext.
Überhaupt, die Relevanz. «Die Theater müssen in der Gesellschaft eine viel wichtigere Rolle erhalten», findet Marc Baumann. «Ich habe das Gefühl, wir haben das hier nicht geschafft», sagt er nachdenklich. Theater-intern, und das meint er ganz allgemein und nicht Winterthur-spezifisch, beschäftige man sich eher mit dramaturgischen Abläufen, denn mit Inhalten. «Doch wie könnten sich die Theater pointierter äussern?», fragt er sich zum Ende seiner Amtszeit. «Diesen Diskurs werde ich vermissen.»

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